“Immer flexibel sein!”
Ein Gespräch über die Alte-Musik-Szene, Musikvermittlung und berufliche Chancen.
BREVIS: Herr Mertens, ich habe gehört, dass Sie sich zur Vorbereitung Ihres Sängerberufes nicht nur mit dem Musikstudium begnügt haben…
Klaus Mertens: …Ich habe schlicht zwei Studien parallel komplett absolviert: Musik für das Lehramt, wozu neben Deutsch und Religion auch noch zahlreiche andere Fächer gehörten und ein komplettes Musik-Gesang-Studium. Das war halt ein bisschen mehr Arbeit…
BREVIS: Sänger fangen normalerweise später an, im Erwachsenen-Alter.
Mertens: Wenn es hierfür überhaupt eine Regel gibt…
Generell gilt auch hier: je früher, desto besser.
Bei uns zu Hause wurde gesungen, auch in der Grundschule. So habe ich noch einige Erinnerungen an den Musikunterricht in der Grundschule, immerhin gab es ihn damals noch. Er bestand großenteils aus Singen und Flötenspiel, hatte gewiss noch kein eigenes Curriculum, wurde aber als wichtig für Erziehung und Unterricht betrachtet. Noch genau erinnere ich heute den Tag, an dem mein Musiklehrer, der auch mein Klassenlehrer war, sein Fagott mit in den Musikunterricht brachte, uns auf diesem Instrument verschiedenes vorspielte und uns Schüler so gleich in seinen Bann zog. Wir Schüler fanden dies sensationell und allein schon diese kleine Begebenheit brannte sich fest in unsere Erinnerung ein und trug gewiss mit bei zu einer Begeisterung für die Musik.
Es ist schon bemerkenswert, dass damals das Fach Musik als wichtig für den Fächerkanon der Grundschule erachtet wurde und sich in einer Zeugnisnote niederschlug. Dieses Fach zu Gunsten anderer wichtiger Fächer zu opfern, stand jedenfalls nicht zur Disposition.
Meine Gymnasialjahre schließlich verbrachte ich in einem christlichen Internat, wo sehr viel gesungen und musiziert wurde. Für mich war dies freilich ein Glücksfall, jedoch kann diese Erfahrung nicht pauschal gelten für jedes humanistische Gymnasium dieser Zeit.
Generell aber hatte das Fach Musik noch einen ganz anderen Stellenwert.
So traf ich damals auf Oberstufenschüler, die recht gut Klavier spielten und die, als sie feststellten, dass ich über eine schönе Sopranstimme verfügte, mich aufforderten, mit Ihnen Schubert-Lieder zu singen. So kam in meinem Fall eines zum anderen, ich erlernte zusätzlich diverse Instrumente.
BREVIS: Sie hatten keine Wahl.
Mertens: So ist es, allerdings habe ich mich auch nicht sonderlich gegen dieses Ansinnen gewehrt. Schon damals sang ich gerne, und immer mehr reifte mit den Jahren in mir der Wunsch, Sänger zu werden. Im Internat hatten wir außer samstags jeden Tag Gottesdienste zu gestalten, es gab eine Choral-Schola, die Orgel musste gespielt werden usw.
Wie Sie hören, galten damals noch andere Gesetze… Schließlich bekam ich in der Mittelstufe einen neuen Musiklehrer, der zugleich ausgebildeter Bariton war. Das wiederum fand ich natürlich total spannend.
Er machte mich vertraut mit ersten technischen Tricks für den Gesang und baute mich bereits mit kleinen Soloaufgaben in Schul-Konzerte ein. Die Teilnahme am Schulchor war natürlich selbstverständlich. Als ich schließlich in der Oberstufe des Gymnasiums auch zu Hause meinen Wunsch äußerte, Sänger werden zu wollen, stieß dies bei meinen Eltern auf große Skepsis. So sehr sie die Musik liebten – sich vorzustellen, dass ihr ältester Sohn als Sänger seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, war für diese Generation offenbar noch nicht möglich. So riet mir mein Vater, etwas “richtiges” zu studieren, auf Sicherheit bedacht zu sein, z.B. Jurist oder Lehrer zu werden. Hieraus resultiert schließlich mein Doppel-Studium.
BREVIS: Zurück zur Schulpolitik: Was kann man heute als freier Musiker verbessern?
Mertens: Sie werden gar nicht viel ausrichten können. Es wäre allenfalls eine Art “Good-Will-Act”, nachmittags etwa Kindern in ihrem Umkreis irgendwelche Anregungen in Sachen Musik zu geben, weil am Vormittag in der Schule kein Musik-Unterricht mehr stattfindet, obwohl dieser offiziell noch auf dem Lehrplan steht. Im heutigen Schulwesen hat man eine ganz andere Gewichtung vorgenommen, Fächer wie Sprache, Mathematik, Physik u.a. bekommen die größte Aufmerksamkeit; weiter hinten rangieren Fächer wie Musik oder auch Religion und andere. Müssen Schulstunden entfallen, trifft es garantiert die letztgenannten Fächer.
BREVIS: Aber könnte man nicht – wenn schon nicht als einzelner Musiker – so aber doch mit der “Power” einer Gruppe, einer Vereinigung an die Schulbehörde oder an Schulen herantreten und irgendwie von dieser Seite versuchen, die Lage zu verbessern?
Mertens: Ich fürchte, dies ist mehr Wunschdenken als realistische Sicht der Lage. Dieses würde ja voraussetzen, dass die Kultusministerien der 16 Bundesländer dem Fach Musik wieder deutlich größere Bedeutung beimessen würden. Schon in der Vor-Schule, vor allem aber in der Grundschule wird seit Jahren schon auf unverantwortliche Weise großes Potenzial brach liegen gelassen; hier werden im Grunde schon die Weichen gestellt für das lebenslange Interesse oder Desinteresse an der Musik. Als Folge stellten sich dann die Schüler der weiterführenden Schule, in der Pubertät die Kopfhörer über und wenden sich einseitig vorgefertigten Musikkonserven, sprich der Pop-Musik zu; das Interesse an klassischer Musik, an eigenem Singen und Musizieren ist damit endgültig verspielt. Ein weiteres Nebenprodukt dieser Entwicklung sind massive Schäden des Gehörs oft schon bei sehr jungen Menschen.
BREVIS: Da sehe ich schon auch sehr große Fehler bei den Eltern.
Mertens: Ja, es fehlt selbst an so einfachen Tugenden wie Hinhören, Achtsamkeit, Konzentration. Das Potenzial der Ablenkung – Stichwort technische Medien – , die optisch-akustische Reizüberflutung ist heute derart groß, dass junge Menschen leicht den Überblick, die Orientierung, eine spezielle Ausrichtung verlieren können. Darüber hinaus fehlt es heute meist an der erforderlichen Konsequenz in den Elternhäusern.
Singen, klassische Musik, erst recht die Sparte “Alte Musik” sind bei den jungen Menschen heute “mega out”.
BREVIS: Ich habe aber immer noch die Hoffnung, dass wir z.B. mit selbst ausgearbeiteten Schulprojekten, die in Zusammenarbeit mit Schulmusikern erstellt wurden, doch wieder Begeisterung für das Fach Musik (inkl. “Alter Musik”), für das Singen, die Instrumente in die Schule bringen könnten… Quasi von der Basis aus, wenn die Förderung von oben her schon nicht erfolgt.
Mertens: Vergessen Sie bitte nicht, dass in der Zeit, da das Schulfach Musik auch seitens der Politik noch hoch angesehen war, gerade auch den damals meist noch intakten Elternhäusern große Bedeutung zukam. Dort wurde noch gesungen, musiziert, dort besuchte man Konzerte, besuchten die Kinder die Musikschule oder erlernten privat ein Musikinstrument… Allein dieser wichtige Faktor hat sich längst weitestgehend geändert, entfällt quasi.
BREVIS: Wenn dem so ist, besteht unsere Chance dann nicht darin, uns flächendeckend an die Musiklehrer in der Schule zu wenden?
Mertens: Aus eigener Erfahrung hätte ich hier sogleich die Sorge, dass ein solches Vorhaben – wir leben schließlich in Deutschland… – schon an formalen Fragen scheitern würde, und wenn es die der Versicherung ist. Es kommen schließlich gutwillige, aber schulfremde Kräfte in den Unterricht, und dies muss entsprechend abgesichert sein.
Ganz abgesehen davon dürften die Beteiligten keinerlei Entgelt für ihren gewiss lobenswerten Einsatz erwarten.
BREVIS: Mir geht es hierbei eher um Projekte, denn natürlich können wir als Außenstehende nicht die Defizite des schulischen Musikunterricht ausgleichen. Ich denke zum Beispiel an Projekte, Workshops… So erarbeitete ich selber beispielsweise vor kurzem an einem Gymnasium in Eckernförde drei Stunden lang mit einer kleinen Gruppe unter anderem ein Werk von Praetorius mit vier Geigen, vier Flöten, Cello und Akkordeon. Erste Reaktion der Schüler: “Ach, müssen wir dieses alte Gedöns noch machen, haben Sie nicht was anderes?” Am Ende waren doch alle sehr beeindruckt von dieser Musik.
Mertens: Von wem kam die Frage bzw. das Gedöns-Gerede?
BREVIS: Von den Schülern, alle so im Alter zwischen 13 und 16 Jahren.
Mertens: Das perfekte Alter für diese Musik … d.h. Sie stellten das Werk den Schülern erst einmal akustisch vor, damit sie wussten, worum es geht?
BREVIS: Ich arbeitete im Vorfeld mit ihrer Musik-Lehrerin zusammen, sie bereitete das Stück mit den Schülern vor, sie übten es auf den Instrumenten. Dabei kam bei den Schülern jedoch wenig Motivation für dieses Werk auf.
Mertens: Es kann also gut sein, dass bei einem bestimmten Prozentsatz junger Menschen immer noch die Bereitschaft und das Potenzial da sind, sich mit dieser so anderen Musik zu beschäftigen. Mit Blick auf schwindende Besucherzahlen in den Konzertsälen haben dies ja auch die Orchester erkannt und steuern seit einiger Zeit bewusst gegen durch eigene Initiativen, die sehr unterschiedlich ausfallen können; so gehen z.B. auch Orchestermitglieder in die Schulen… Ich denke hier spontan an meine Tochter Rebecca, Fagottistin bei den Bochumer-Symphonikern. Dieses Orchester führt Jahr für Jahr z.B. eine Aktionswoche für junge, musikbegeisterte Menschen durch: Orchestermitglieder unterrichten eine Woche lang junge Menschen mit Vorkenntnissen auf ihrem Instrument und bereiten in dieser Zeit mit Ihnen gleichzeitig ein Konzert vor, welches dann am Abschluss dieser Woche steht. Was allein in dieser einen Woche im Großraum Bochum-Essen bei vielen jungen Menschen – aber auch bei den unterrichtenden Spezialisten des Orchesters – an Freude, Motivation, Begeisterung an der Musik entsteht, kann man nicht hoch genug einschätzen! Freilich sprechen wir hier von jungen Menschen, die bereits damit beschäftigt sind, ein Instrument zu erlernen.
Viel Potenzial verpufft, weil junge Menschen in den hierfür entscheidenden Phasen ihrer Entwicklung nicht entsprechend motiviert, gefördert werden!
BREVIS: Ende der 70-er bis Anfang der 90-er Jahre ging es der Musikbranche ja zweifellos sehr gut; d.h. auch: viele Menschen studierten damals Musik, erlernten Musikberufe im Vertrauen auf diesen Boom… Der allerdings hielt nicht in dieser Weise an, so haben wir heute einen großen Überhang an gut ausgebildeten, arbeitslosen Spezialisten. Sind wir nicht längst viel zu viele?
Mertens: Zweifellos! Deshalb spreche ich ja schon lange davon, dass angehende Musiker heutzutage zu größter Flexibilität bereit sein, breit aufgestellt sein müssen.
Dies scheint sich langsam sogar in den Musikhochschulen herumzusprechen, die ihre Studenten – wie in einem realitätsfernen Schonraum – bisher so gut wie nicht auf die sie nach dem Studium erwartende Realität vorbereiteten. Oder denken Sie an die logischerweise immer kleiner werdende Zahl an Kirchenmusikern, geschuldet der aktuellen Situation in den Kirchen…
Das alles war in den von Ihnen benannten “goldenen” Jahren noch ganz anders, weil das Fach Musik im gesellschaftlichen Leben noch einen ganz anderen Stellenwert hatte, weil man noch regelmäßig ins Konzert ging etc.
Wie wird es ganz konkret heute Abend hier in der Landeshauptstadt Hannover sein, bei unserem Konzert mit wertvollster Musik von J.S.Bach in einer der hiesigen Konzertkirchen??? Wieviele Konzertbesucher dürfen wir erwarten? Auch hier muss man ganz realistisch konzidieren, dass sichere Prognosen nicht mehr möglich sind; man ist dankbar für jeden Konzertbesucher; ein Fakt, der Konzertveranstalter immer zögerlicher werden, ja das Risiko “Liederabend” inzwischen fast gänzlich meiden lässt.
Klassische oder sogenannte E-Musik spielt im heutigen Leben eine absolute Randexistenz, in der Schule wie im Leben der Gesellschaft überhaupt. Natürlich ist es schön, wenn an einer Schule etwa die Abiturfeier durch einen Beitrag des Schulorchesters, des Schulchores “umrahmt” wird, bei offiziellen feierlicher Anlässen Musik erklingt…
Und vergessen Sie bitte nicht dieses unselige Wort vom “Sparzwang”, das offenbar überall Einzug gehalten hat und scheinbar unbedacht auf jeden Bereich wie selbstverständlich übertragen wird – und sei er noch so unpassend oder unsinnig!
Selbst Rundfunkintendanten glauben ein Orchester “wegsparen” zu müssen, Kulturdezernenten in den Städten sparen bei den Konzertserien, Opernhäuser geraten plötzlich ins Visier der Sparwütigen etc. Wir sprechen hier – im Kulturbereich – von Effekten, die, gemessen an Ausgaben in ganz anderen Bereichen, eher lächerlich, in ihrer Auswirkung allerdings höchstbedenklich sind. Auf die Spitze getrieben, läuft unser Kulturbetrieb derzeit darauf hinaus, dass Veranstalter am liebsten nur noch bewährte, risikolose Programme auflegen möchten, ausgeführt von immer denselben risikolosen Interpreten, die volle Säle auch heute noch garantieren… Das wäre dann wohl das Ende jeglichen Kulturbetriebs.
Dann freilich wäre zwar das Ziel so manches Strategen erreicht. In diesem Land möchte ich dann allerdings nicht mehr leben. Klassische Musik scheint immer mehr zu einem Bereich für Spezialisten und Exoten zu degenerieren. Weitere Indikatoren für diesen weiterverbreiteten Trend sind m.E.: Man findet in den Print-Medien immer weniger Ankündigungen von klassischen Konzerten, erst recht aber kaum noch seriöse Besprechungen, Kritiken hiervon. Sponsoren wenden sich längst dem offenbar viel attraktiveren und publikumswirksameren Bereich „Sport“ zu.
BREVIS: Reagieren die Verantwortlichen mit diesen Sparmaßnahmen nicht zugleich auf die Entwicklung, dass die Musik, die Kultur überhaupt mit den Jahren immer teuerer wurde?
Mertens: Das mag z.T. zutreffen. Ich weiß, wovon ich rede, schließlich verdiene ich meinen Lebensunterhalt genau in diesem Bereich. Meiner Meinung nach haben sich im Laufe der Jahre die Gewichtungen verlagert. So wäre gewiss immer noch genügend Geld für die klassische Musik vorhanden, auch die Gebührenkasse der Rundfunkanstalten ist derart gut gefüllt, dass erstmals sogar eine leichte Senkung der Gebühren umgesetzt wurde. Dennoch tritt stillschweigend nahezu jeder öffentlich-rechtliche Sender von seiner an sich gesetzlichen Verpflichtung zurück, durch eigene Produktionen mit zur Bildung sowie zur Bereicherung unserer Kulturlandschaft beizutragen. Der Anteil des Fernsehens, der gesamte optische Bereich erhielt einen deutlich höheren Stellenwert, verschlingt inzwischen Unsummen für oftmals äußerst magere Resultate. Der Protest in der Bevölkerung bleibt allerdings weitgehend aus. Ein ganz anderer Aspekt ist eher globaler Natur: Seit der Öffnung der Grenzen sind im Kulturbereich Dumpinghonorare durch die Konkurrenz gang und gäbe. Auch wegen dieser im Vergleich zu meinem Start als junger Sänger heute völlig anderen Ausgangsposition gieße ich jungen heutigen Gesangs-Studenten stets “reinen Wein” ein, was ihre realistischerweise zu erwartenden Berufsaussichten betrifft. Daher rührt eben auch meine Forderung nach möglichst großer Flexibilität bei denjenigen, die auch heute noch derartige Berufe zu ergreifen sich anschicken und häufig noch völlig unrealistischen Vorstellungen nachhängen. Und das trotz aller medialen Möglichkeiten heutzutage, sich auch als junger Mensch ein realistisches Bild zu machen. Haben wir nicht schon genügend top-ausgebildete arbeitslose Musiker, sind nicht bereits so viele von ihnen mit alternativen Möglichkeiten wie Notenschreiben etc. beschäftigt? Die Hochschulen müssten heute als Teil der Curriculums ihren Studenten immer auch ein realistisches Berufsbild inkl. alternativen Möglichkeiten anbieten.
BREVIS: Was halten Sie von der im heutigen Konzertbetrieb gern geforderten Vermischung der Genres/Stile?
Mertens: Sie denken dabei gewiss auch an die heute oft zu hörende Zauberformel “Crossover”? Ich bin, was diese Neuerungen betrifft, eher skeptisch, es kommt mir vor wie ein eher krampfhaftes Bemühen der “Macher”, mit aller Macht “Neues” in den Konzertbetrieb bringen zu wollen, koste es, was es wolle… Das soll nun wirklich nicht heißen, dass ich wohl überlegten Innovationen gegenüber nicht aufgeschlossen wäre.
Ich habe ganz bewusst zur getanzten Version der Bach’schen Matthäuspassion mit John Neumeier’s herausragendem Ballett die Bass-Arien gesungen; es kam zu Bach’s ohnehin schon großartiger Musik quasi noch eine neue Dimension hinzu, die das Werk für Zuhörer wie Mitwirkende noch beeindruckender machte – ein Gewinn also. Auch kann ich der Kombination von Liederabend und Vortrag geeigneter Texte sehr viel abgewinnen. Dies jedoch steht der heutzutage vorschnell geforderten Kombination von unterschiedlichsten Genres und Stilen diametral entgegen. Und dazu sage ich ganz klar: Nein, danke! Selbst auf die Gefahr hin, dass dies für meine eigene Arbeit kontraproduktiv sein könnte. Wir sollten nach wie vor bemüht sein, das zahlenmäßig immer kleiner werdende Publikum durch überzeugende Programme zu begeistern und nicht einem vermeintlichen “Trend” nachlaufen, der möglicherweise wiederum sehr kurzlebig ist…
BREVIS: Sie haben ja noch das Ende der LP-Ära erlebt (Ihre erste eigene Einspielung war meines Wissens Schubert’s “Winterreise” als LP) und dann die Ära des neuen Mediums CD. Durch die Digitalisierung wurde technisch plötzlich alles möglich, leider auch im negativen Sinne. D.h. durch das Geschick des Tonmeisters und unendliche viele Schnitte kann auf der Silberscheibe eine Qualität von Ausführenden vorgetäuscht werden, die im Ernstfall des Live-Konzertes möglicherweise überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen ist und beim Zuhörer für Konsternierung sorgt… Ist das nicht ein verhängnisvolles Missverständnis?
Mertens: Ja, die Gefahr bestand vor allem am Beginn dieser neuen Ära. Inzwischen hat sich dies zumindest beim kundigen Zuhörer/Konsumenten relativiert: Er wird um den Unterschied zwischen einem Live-Konzert und einer fein verpackten Silberscheibe wissen. Die Erwartungshaltung in Richtung Perfektion beim Konzert wurde insgesamt beim Zuhörer gewiss durch die CD deutlich gesteigert. Mit meinen derzeit ca. 200 CD- Einspielungen hatte ich ja bisher schon reichlich Gelegenheit, mich mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Meine Lösung heißt daher: Bei Aufnahmen sollten die Takes so lang und zusammenhängend sein wie nur möglich, um dadurch auch auf dem äußerst artifiziellen Medium CD möglichst authentisch zu sein. Dann haben auch CD’s eine Berechtigung. Die große Praktikabilität dieses Mediums möchte ich dabei überhaupt nicht in Abrede stellen.
BREVIS: Letzte Frage: Wir haben die Vereinigung Alte Musik gegründet mit dem Ziel, die freie Musikszene, konkret die freie Alte-Musik-Szene zu formieren, zu erhalten und zu verbessern. Was halten Sie davon?
Mertens: Grundsätzlich ist dies ein hehrer Gedanke, eine wichtige Konsequenz und irgendwo auch logisch! Wir blicken inzwischen auf mehrere Jahrzehnte äußerst fruchtbarer und erfolgreicher Arbeit im Bereich “Alte Musik“ zurück. Der hier generierte Funke sprang längst auch auf viele “moderne” Orchester über, um mit Hilfe bekannter Dirigenten aus der “Szene” ihr eigenes Musizieren zu verbessern, die inzwischen gewonnenen Erkenntnisse auf Ihren Bereich zu übertragen, die eigene Motivation zu steigern und letztlich auch wieder mehr Freude am Beruf zu haben. Wie gut dies heutzutage schon gelingt und welche enorme Resultate hier möglich sind, erfahre ich selber immer wieder, sobald ich etwa gemeinsam mit meinem Freund Ton Koopman bei großen Symphonie-Orchestern zu Gast bin. Dies ist insgesamt eine wunderbare und scheinbar nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung! Freilich sprechen wir hier von den quasi beamteten Musikern in den großen Orchestern. Die Situation bei den freischaffenden Musikern der Alten Musik ist eine ganz andere, auch weil sie bisher noch nicht über ein Organ/eine Institution verfügen, die sie in angemessener Weise repräsentiert. Es bräuchte für diesen gesamten Komplex, für eine sehr große Zahl exzellenter Musiker, Spezialisten, eine Art Standesvertretung, die in geeigneter Form Fragen aller anstehenden Bereiche (von den rechtlichen Fragestellungen bis hin zur adäquaten Honorierung) ein für alle Mal verbindlich abklären würde und in geeigneter Form, offiziell legitimiert, auch mit Entschiedenheit zu vertreten in der Lage ist. Was im Konzert- und Produktionsbereich längst höchste Anerkennung und Gültigkeit erfährt, verfügt leider immer noch nicht über den geeigneten und stabilen Unterbau. Wünschenswert wäre hier natürlich auch eine Art Solidarität der vielen festangestellten Musikerkollegen in den vorgenannten, in Deutschland derzeit noch mehr als 150 Symphonieorchestern, zumal viele dieser Musiker zusätzlich die Möglichkeit haben, etwa bei Oratorien-Aufführungen außerhalb ihres eigenen Dienstes sich das eine oder andere Zubrot zu verdienen, und das wiederum zu Honoraren, die durchaus unter den Margen liegen können, die ein Musiker der freien Szene eigentlich fordern müsste, um überleben zu können. Dass viele Symphonieorchester heute z.T. anders musizieren als noch vor Jahren, ist nicht zuletzt auch ein Verdienst der zahllosen Erkenntnisse sowie der Praxis in der Alten Musik-Szene.
Ich kann Ihrer Initiative also nur allergrößten Erfolg wünschen.
BREVIS: Vielen Dank!